Sonntag, 13. Dezember 2020

 Vorrede zu: Lage der arbeitenden Klasse in England 


Ich darf euch heute über meine Lektüre von Friedrich Engels Arbeit über die die Lage der Arbeiter in England berichten.

Zur zeitlichen Einordnung möchte ich bemerken, dass Engels vor ziemlich genau 200 Jahren und zwei Wochen geboren wurde: am 28.11.1820. Das Buch ist 1845, also vor 175 Jahren, in Leipzig erschienen, er war damals  25 Jahre alt. Gestorben ist er am 5.8.1895 mit 74 Jahren.


Sein Buch gehört heute zu den Klassikern der empirischen Soziologie. Seine theoretischen Ansichten in dieser Zeit sind mit Gewinn in “Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie” nachzulesen. Der erste Satz dort lautet: “Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft.” 


Friedrich Engels kam aus der Familie eines erfolgreichen Baumwollfabrikanten und lebte immer wieder auch in Manchester, wo sein Vater an einer Baumwollspinnerei beteiligt war. Bald nach seiner Ankunft dort lernte er die beiden irischen Arbeiterinnen Mary und Lizzie Burns kennen, mit denen er zeitlebens in Liebe verbunden war. Nach dem Tod von Mary wurde Lizzie seine Partnerin, die er noch einen Tag vor ihrem Tod heiratete. 

Rachel Holms berichtet in ihrem Buch: Eleanor Marx: A Life: 

”Like her sister, Lizzie Burns was a dedicated player in the Irish Republican movement, and the house she shared with Engels at 86 Mornington Street was a meeting place and a safe house for Fenian activists. (member of an Irish nationalist secret society) She was freedom-loving, uncorseted, fiercely political and sparkling with fun. ”

“Wie ihre Schwester war Lizzie Burns eine entschiedene Parteigängerin in der Irischen Republikanischen Bewegung, und das Haus das sie mit Engels in 86 Mornington Street teilte, war ein Treffpunkt und Zuflucht für Fenian activists. (Mitglieder einer irischen nationalistischen Geheimgesellschaft) Sie war freiheitsliebend, ohne Korsett, politisch unbeugsam und mit sprühendem Humor.”


Engels schrieb über sie: “My wife was a real child of the Irish proletariat and her passionate devotion to the class in which she was born was worth much more to me – and helped me more in times of stress – than all the elegance of an educated, artistic middle-class bluestocking”.

“Meine Frau war ein wirkliches Kind des irischen Proletariats und ihre leidenschaftliche Hingabe an die Klasse, in die sie geboren wurde, war mir mehr wert und half mir mehr in schwierigen Zeiten als die Eleganz eines gebildeten, künstlerischen Mittelklassen- Blaustrumpfes.”


Die Lage der arbeitenden Klasse in England


Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen von Friedrich Engels, Leipzig, 1845


Überblick und Entwicklung von Zahlen aus der Einleitung:


1834 leben 1 500 000 Menschen in England von der Textilindustrie,

         davon   220 000 in Fabriken


Energieaufwand :33 000 Pferde Dampfkraft

                            11 000 Pferde Wasserkraft

Maschinen:

Mule Spindeln    8 000 000

Handwebstühle      250 000

mech.Webstühle     110 000


Import Rohbaumwolle:1771-1775 im Durchschnitt<50 000000Pfund

    1841       528 000 000Pfund

    1844                             600 000 000 Pfund


Export: gewebte Baumwoll-Stoffe 556 000 000 yards

    Baumwollgarn                    76 500 000 Pfund

    Baumwoll-Strumpfwaren     1 200 000 Pfund


Engels nimmt an, dass sich 1845 die Zahl der Arbeiter und Anzahl und Kraft der Maschinen im Vergleich zu 1834 verdoppelt haben werden.




EinwohnerInnen in den großen Städten:

Manchester  und Liverpool: 700 000

Bolton   60 000

Rochdale   75 000

Oldham   50 000

Preston   60 000

Ashton und Stalybridge   40 000


Glasgow: weiteres Zentrum der Baumwollindustrie in Schottland

Mit der Baumwollindustrie verwandte und von ihr abhängige Industriezweige:


Spitzen-, Leinen und Seidenproduktion: Bleicherei, Färberei, Druckerei; Schafzucht und Wollindustrie; Dampfmaschinen mit Eisen- und Kohlenbergwerken, Gießereien und Hochöfen zur Produktion von Maschinen; Kupfer und Bleibergwerke, Glas und Steingutproduktion.


Kohlengruben in Northumberland und Durham:

1753:   14

1843: 130


Ackerbau:

Von 1760 bis 1834: 6 800 000 englische Morgen urbar gemacht, aus einem Getreideimporteur wird nun England zu einem Getreideexporteur.


Strassen und Kanalbau:

seit 1803:  900 Meilen Strassen in Schottland, desgleichen in Irland; vor 1755 kaum Kanäle in England, jetzt 2200 Meilen Kanäle und 1800 Meilen schiffbare Flüsse


Eisenbahnen:

1830 Liverpool- Manchester


Dampfschiffe:

1807 auf Hudson, 

1811 auf Clyde, 

  600 in England gebaut


Inhalt:   


Aus dem Vorwort:

…..

“Einerseits, um den sozialistischen Theorien, andrerseits, um den Urteilen über ihre Berechtigung einen festen Boden zu geben, um allen Schwärmereien und Phantastereien pro et contra ein Ende zu machen, ist die Erkenntnis der proletarischen Zustände deshalb eine unumgängliche Notwendigkeit.” 

….. 

“Die wirklichen Lebensumstände des Proletariats sind so wenig gekannt unter uns, daß selbst die wohlmeinenden "Vereine zur Hebung der arbeitenden Klassen", in denen jetzt unsre Bourgeoisie die soziale Frage mißhandelt, fortwährend von den lächerlichsten und abgeschmacktesten Meinungen über die Lage der Arbeiter ausgehen.” 


Aus der Einleitung:


“Vor sechzig, achtzig Jahren ein Land wie alle andern, mit kleinen Städten, wenig und einfacher Industrie und einer dünnen, aber verhältnismäßig großen Ackerbaubevölkerung; und jetzt ein Land wie kein anderes, mit einer Hauptstadt von drittehalb Millionen Einwohnern, mit kolossalen Fabrikstädten, mit einer Industrie, die die ganze Welt versorgt und die fast alles mit den kompliziertesten Maschinen macht, mit einer fleißigen, intelligenten, dichtgesäten Bevölkerung, von der zwei Drittel durch die Industrie in Anspruch genommen werden und die aus ganz andern Klassen besteht, ja, die eine ganz andre Nation mit andern Sitten und andern Bedürfnissen bildet als damals.”

…..

<237> “Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle. Diese Erfindungen gaben bekanntlich den Anstoß zu einer industriellen Revolution, einer Revolution, die zugleich die ganze bürgerliche Gesellschaft umwandelte und deren weltgeschichtliche Bedeutung erst jetzt anfängt erkannt zu werden. England ist der klassische Boden dieser Umwälzung, die um so gewaltiger war, je geräuschloser sie vor sich ging, und England ist darum auch das klassische Land für die Entwicklung ihres hauptsächlichsten Resultates, des Proletariats. Das Proletariat kann nur in England in allen seinen Verhältnissen und nach allen Seiten hin studiert werden.

…..

Vor der Einführung der Maschinen geschah die Verspinnung und Verwebung der Rohstoffe im Hause des Arbeiters. Frau und Töchter spannen Garn, das der Mann verwebte oder das sie verkauften, wenn der Familienvater nicht selbst es verarbeitete. Diese Weberfamilien lebten meist auf dem Lande, in der Nähe der Städte, und konnten mit ihrem Lohn ganz gut auskommen, da der heimische Markt noch für die Nachfrage nach Stoffen entscheidend, ja fast der einzige Markt war und die mit der Eroberung fremder Märkte, mit der Ausdehnung des Handels später hereinbrechende Übermacht der Konkurrenz noch nicht fühlbar auf den Arbeitslohn drückte. Dazu kam eine dauernde Steigerung der Nachfrage im heimischen Markt, die mit der langsamen Vermehrung der Bevölkerung Schritt hielt und also sämtliche <238> Arbeiter beschäftigte, und dann die Unmöglichkeit einer heftigen Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander, die aus der ländlichen Vereinzelung ihrer Wohnungen entstand. So kam es, daß der Weber meist imstande war, etwas zurückzulegen und sich ein kleines Grundstück zu pachten, das er in seinen Mußestunden - und deren hatte er so viele als er wollte, da er weben konnte, wann und wielange er Lust verspürte - bearbeitete. Freilich war er ein schlechter Bauer und betrieb seine Ackerwirtschaft nachlässig und ohne viel reellen Ertrag; aber er war doch wenigstens kein Proletarier, er hatte, wie die Engländer sagen, einen Pfahl in den Boden seines Vaterlandes eingeschlagen, er war ansässig und stand um eine Stufe höher in der Gesellschaft als der jetzige englische Arbeiter.”

……

“Die erste Erfindung, die in der bisherigen Lage der englischen Arbeiter eine durchgreifende Veränderung hervorbrachte, war die Jenny des Webers James Hargreaves zu Standhill bei Blackburn in Nord-Lancashire (1764). 


<240> Diese Maschine war der rohe Anfang der späteren Mule und wurde mit der Hand in Bewegung gesetzt, hatte aber statt einer Spindel, wie das gewöhnliche Handspinnrad, deren sechzehn bis achtzehn, die von einem einzigen Arbeiter getrieben wurden. Hierdurch wurde es möglich, bedeutend mehr Garn zu liefern als bisher; während früher, wo ein Weber immer drei Spinnerinnen beschäftigt hielt, nie genug Garn dagewesen war und der Weber oft auf Garn hatte warten müssen, war jetzt mehr Garn da, als von den vorhandenen Arbeitern verwebt werden konnte. Die Nachfrage nach gewebten Zeugen, die ohnehin im Zuwachs war, stieg noch mehr durch den billigeren Preis dieser Zeuge, der aus den durch die neue Maschine erniedrigten Produktionskosten des Garns folgte; es waren mehr Weber nötig, und der Weblohn stieg. 



spinning jenny                                 https://youtu.be/an4hi0knlaA 


Jetzt, da der Weber mehr an seinem Stuhl verdienen konnte, ließ er seine Ackerbaubeschäftigung allmählich fallen und legte sich ganz aufs Weben. Um diese Zeit konnte eine Familie von vier Erwachsenen und zwei Kindern, die zum Spulen angehalten wurden, bei täglich zehnstündiger Arbeit vier Pfund Sterling - achtundzwanzig Taler preußisch Kurant - in der Woche verdienen, und oft noch mehr, wenn das Geschäft gut ging und die Arbeit drängte; es kam oft genug vor, daß ein einzelner Weber an seinem Stuhl wöchentlich zwei Pfund verdiente. Nach und nach verschwand so die Klasse der ackerbauenden Weber ganz und löste sich in die neuentstehende Klasse der bloßen Weber auf, die allein vom Arbeitslohn lebten, gar keinen Besitz, nicht einmal den Scheinbesitz einer Pachtung hatten und somit Proletarier (working men) wurden. Hierzu kam noch, daß auch das alte Verhältnis des Spinners zum Weber aufgehoben wurde. Bisher war, soweit dies anging, unter einem Dach das Garn gesponnen und verwoben worden. Jetzt, wo die Jenny ebensogut wie der Webstuhl eine kräftige Hand erforderte, fingen auch Männer an zu spinnen, und ganze Familien lebten von ihr allein, während andre wiederum das jetzt veraltete und überflügelte Spinnrad beiseite stellen und, wenn ihnen die Mittel zum Ankauf einer Jenny fehlten, allein von dem Webstuhl des Familienvaters leben mußten. Hiermit fing die in der späteren Industrie so unendlich ausgebildete Teilung der Arbeit beim Weben und Spinnen an. Während so schon mit der ersten noch sehr unvollkommnen Maschine das industrielle Proletariat sich entwickelte, gab dieselbe Maschine Anlaß zur Entstehung auch des Ackerbauproletariats. Bisher hatte es eine große Menge kleiner Grundeigentümer gegeben, die Yeomen genannt wurden und die in derselben Stille und Gedankenlosigkeit hinvegetiert hatten wie ihre Nachbarn, die ackerbauenden Weber. Sie bebauten ihre Fleckchen Land ganz in der alten nachlässigen Weise ihrer Väter und widersetzten sich jeder Neuerung mit der Hartnäckigkeit, die solchen durch eine Reihe von Generationen <241> stabil gebliebenen Gewohnheitsmenschen eigentümlich ist. Unter ihnen gab es auch viele kleine Pächter, aber nicht Pächter im heutigen Sinne des Worts, sondern Leute, die entweder durch vertragsmäßige Erbpacht oder kraft alter Sitte ihr Fleckchen Land von ihren Vätern und Großvätern überkommen und darauf bisher so fest gesessen hatten, als ob es ihnen eigentümlich gehöre. Jetzt wurden, da sich die Industriearbeiter vom Ackerbau zurückzogen, eine Menge Grundstücke frei, und auf ihnen nistete sich die neue Klasse der großen Pächter ein, die fünfzig, hundert, zweihundert und mehr Morgen zusammen in Pacht nahmen, tenants-at-will waren, d.h. Pächter, deren Pacht jedes Jahr gekündigt werden konnte, und die nun durch besseren Ackerbau und großartigere Wirtschaft den Ertrag der Grundstücke zu steigern wußten. Sie konnten ihre Produkte wohlfeiler verkaufen als der kleine Yeoman, und diesem blieb nun, da sein Grundstück ihn nicht mehr ernährte, nichts übrig, als es zu verkaufen und entweder eine Jenny oder einen Webstuhl anzuschaffen oder sich als Tagelöhner, Ackerbauproletarier, bei dem großen Pächter zu verdingen. Seine angestammte Trägheit und die nachlässige Art der Bebauung seines Grundstücks, die er von seinen Vorfahren überkommen hatte und über die er sich nicht erheben konnte, ließen ihm nichts andres übrig, als er in die Notwendigkeit gesetzt wurde, gegen Leute zu konkurrieren, die ihre Pacht nach vernünftigeren Prinzipien und mit allen Vorteilen betrieben, die eine große Wirtschaft und die Anlage von Kapitalien in der Verbesserung des Bodens in die Hand geben.

Die Bewegung der Industrie blieb indes hierbei nicht stehen. Einzelne Kapitalisten fingen an, Jennys in großen Gebäuden aufzustellen und durch Wasserkraft zu treiben, wodurch sie in den Stand gesetzt wurden, die Arbeiterzahl verringern und ihr Garn wohlfeiler zu verkaufen als die einzelnen Spinner, die bloß mit der Hand die Maschine bewegten. Es fielen fortwährend Verbesserungen der Jenny vor, so daß jeden Augenblick eine Maschine veraltet war und verändert oder gar beiseite geworfen werden mußte; und wenn der Kapitalist durch Anwendung der Wasserkraft selbst mit älteren Maschinen noch bestehen konnte, so war dies dem einzelnen Spinner auf die Dauer unmöglich. Und wenn schon hierin der Anfang des Fabriksystems lag, so erhielt dies durch die Spinning-Throstle, die Richard Arkwright, ein Barbier aus Preston in Nord-Lancashire, 1767 erfand, eine neue Ausdehnung. Diese Maschine, im deutschen gewöhnlich Kettenstuhl genannt, ist neben der Dampfmaschine die wichtigste mechanische Erfindung des achtzehnten Jahrhunderts. Sie ist von vorn herein auf eine mechanische Triebkraft berechnet und auf ganz neuen Prinzipien basiert. Durch die Vereinigung der Eigentümlichkeiten der Jenny und des Kettenstuhls brachte Samuel Crompton aus Firwood (Lancashire) 1785 <242> die Mule zustande, und da Arkwright um dieselbe Zeit die Kardier- und Vorspinnmaschinen erfand, so war hierdurch für das Spinnen der Baumwolle das Fabriksystem zum allein herrschenden geworden. Allmählich fing man an, diese Maschinen durch einige unbedeutende Veränderungen auf das Spinnen der Wolle und später (im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts) auch des Flachses anwendbar zu machen und dadurch auch hier die Handarbeit zu verdrängen. Auch hierbei blieb es nicht; in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Dr. Cartwright, ein Landpfarrer, den mechanischen Webstuhl erfunden und gegen 1804 so weit gebracht, daß er erfolgreich gegen die Handweber konkurrieren konnte; und alle diese Maschinen erhielten doppelte Wichtigkeit durch James Watts Dampfmaschine, die um 1764 erfunden und seit 1785 zur Betreibung von Spinnmaschinen angewandt worden war.”


…..


spinning throstle                            https://youtu.be/ixs6TCm56x0



“Das ist in kurzem die Geschichte der englischen Industrie in den letzten sechzig Jahren, eine Geschichte, die ihresgleichen nicht hat in den Annalen der Menschheit. Vor sechzig, achtzig Jahren ein Land wie alle andern, mit kleinen Städten, wenig und einfacher Industrie und einer dünnen, aber ver- <250> hältnismäßig großen Ackerbaubevölkerung; und jetzt ein Land wie kein anderes, mit einer Hauptstadt von drittehalb Millionen Einwohnern, mit kolossalen Fabrikstädten, mit einer Industrie, die die ganze Welt versorgt und die fast alles mit den kompliziertesten Maschinen macht, mit einer fleißigen, intelligenten, dichtgesäten Bevölkerung, von der zwei Drittel durch die Industrie <In den englischen Ausgaben von 1887 und 1892 "... trade and commerce [Industrie und Handel]"> in Anspruch genommen werden und die aus ganz andern Klassen besteht, ja, die eine ganz andre Nation mit andern Sitten und andern Bedürfnissen bildet als damals. Die industrielle Revolution hat für England dieselbe Bedeutung wie die politische Revolution für Frankreich und die philosophische für Deutschland, und der Abstand zwischen dem England von 1760 und dem von l844 ist mindestens ebenso groß wie der zwischen dem Frankreich des ancien régime und dem der Julirevolution. Die wichtigste Frucht aber dieser industriellen Umwälzung ist das englische Proletariat.

Wir haben oben gesehen, wie das Proletariat durch die Einführung der Maschinen ins Leben gerufen wurde. Die rasche Ausdehnung der Industrie erforderte Hände; der Arbeitslohn stieg, und infolgedessen wanderten Scharen von Arbeitern aus den Ackerbaubezirken nach den Städten. Die Bevölkerung vermehrte sich reißend, und fast aller Zuwachs kam auf die Klasse der Proletarier. Dazu war in Irland erst seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ein geordneter Zustand eingetreten; auch hier vermehrte sich die in den früheren Unruhen durch englische Barbarei mehr als dezimierte Bevölkerung schnell, besonders seitdem der Aufschwung der Industrie anfing, eine Menge Irländer nach England herüberzuziehen. So entstanden die großen Fabrik- und Handelsstädte des britischen Reichs, in denen mindestens drei Viertel der Bevölkerung der Arbeiterklasse angehören und die kleine Bourgeoisie nur aus Krämern und sehr, sehr wenigen Handwerkern besteht. Denn wie die neue Industrie erst dadurch bedeutend wurde, daß sie die Werkzeuge in Maschinen, die Werkstätten in Fabriken - und dadurch die arbeitende Mittelklasse in arbeitendes Proletariat, die bisherigen Großhändler in Fabrikanten verwandelte; wie also schon hier die kleine Mittelklasse verdrängt und die Bevölkerung auf den Gegensatz von Arbeitern und Kapitalisten reduziert wurde, so geschah dasselbe, außer dem Gebiet der Industrie im engeren Sinne, in den Handwerken und selbst im Handel. An die Stelle der ehemaligen Meister und Gesellen traten große Kapitalisten und Arbeiter, die nie Aussicht hatten, sich über ihre Klasse zu erheben; die Handwerke wurden fabrikmäßig betrieben, die Teilung der Arbeit streng durchgeführt und die kleinen Meister, die gegen <251> die großen Etablissements nicht konkurrieren konnten, in die Klasse der Proletarier herabgedrängt. Zu gleicher Zeit aber wurde dem Arbeiter durch die Aufhebung des bisherigen Handwerksbetriebs, durch die Vernichtung der kleinen Bourgeoisie alle Möglichkeit genommen, selbst Bourgeois zu werden. Bisher hatte er immer die Aussicht gehabt, sich als ansässiger Meister irgendwo niederlassen, später vielleicht Gesellen annehmen zu können, jetzt aber, wo die Meister selbst durch die Fabrikanten verdrängt, wo zum selbständigen Betrieb einer Arbeit große Kapitalien nötig wurden, wurde das Proletariat erst eine wirkliche, feste Klasse der Bevölkerung, während es früher oft nur ein Durchgang in die Bourgeoisie war. Wer jetzt als Arbeiter geboren wurde, hatte keine andere Aussicht, als lebenslang Proletarier zu bleiben. Jetzt also erst war das Proletariat imstande, selbständige Bewegungen vorzunehmen.

Auf diese Weise wurde die ungeheure Masse von Arbeitern zusammengebracht, die jetzt das ganze britische Reich erfüllt und deren soziale Lage sich mit jedem Tage der Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt mehr und mehr aufdrängt.

 Die Lage der arbeitenden Klasse, das heißt die Lage der ungeheuren Majorität des englischen Volks, die Frage: Was soll aus diesen besitzlosen Millionen werden, die heute das verzehren, was sie gestern verdient haben, die mit ihren Erfindungen und ihrer Arbeit Englands Größe geschaffen haben, die täglich ihrer Macht sich mehr und mehr bewußt werden und täglich dingender ihren Anteil an den Vorteilen der gesellschaftlichen Einrichtungen verlangen - diese Frage ist seit der Reformbill die nationale Frage geworden. Alle einigermaßen wichtigen Parlamentsdebatten lassen sich auf sie reduzieren; und wenn auch die englische Mittelklasse es sich bis jetzt nicht gestehen will, wenn sie dieser großen Frage auch auszuweichen und sich ihre besondern Interessen als die wahrhaft nationalen hinzustellen sucht, so hilft ihr das doch gar nichts. Mit jeder Parlamentssession gewinnt die arbeitende Klasse Terrain, verlieren die Interessen der Mittelklassen an Bedeutung, und obwohl die Mittelklasse die Hauptmacht, ja die einzige Macht des Parlaments ist, so war doch die letzte Session 1844 eine fortwährende Debatte über Arbeiterverhältnisse (die Armenbill, die Fabrikenbill, die Bill über das Verhältnis von Herren und Dienern), und Thomas Duncombe, der Vertreter der Arbeiterklasse im Unterhause, war der große Mann der Session, während die liberale Mittelklasse mit ihrer Motion wegen Abschaffung der Korngesetze und die radikale Mittelklasse mit ihrem Antrag auf Steuerverweigerung eine jämmerliche Rolle spielten. Selbst die Debatten über Irland waren im Grunde nur Debatten über die Lage des irischen Proletariats und die Mittel, <252> ihm aufzuhelfen. Es ist aber auch hohe Zeit, daß die englische Mittelklasse den nicht bittenden, sondern drohenden und fordernden Arbeitern Konzessionen macht, denn in kurzem möchte es zu spät sein.

Aber bei alledem will die englische Mittelklasse und namentlich die fabrizierende, die aus der Not der Arbeiter sich direkt bereichert, nichts von dieser Not wissen. Sie, die sich als die mächtige, die Nation repräsentierende Klasse fühlt, schämt sich, den wunden Fleck Englands den Augen der Welt bloßzulegen; sie will es sich nicht gestehen, daß die Arbeiter elend sind, weil sie, die besitzende, industrielle Klasse, die moralische Verantwortlichkeit für dieses Elend tragen müßte. Daher das spöttische Gesicht, was die gebildeten Engländer - und nur diese, das heißt die Mittelklasse, kennt man auf dem Kontinent - was die gebildeten Engländer aufzusetzen pflegen, wenn man von der Lage der Arbeiter zu sprechen anfängt; daher die totale Unwissenheit über alles, was die Arbeiter angeht, bei der ganzen Mittelklasse; daher die lächerlichen Böcke, die diese Klasse in und außer dem Parlament schießt, wenn die Verhältnisse des Proletariats zur Sprache kommen; daher die lächelnde Sorglosigkeit, in der sie auf einem Boden lebt, der unter ihren Füßen ausgehöhlt ist und jeden Tag einstürzen kann, und dessen baldiger Einsturz so sicher ist wie irgendein mathematisches oder mechanisches Gesetz; daher das Wunder, daß die Engländer noch kein einziges vollständiges Buch über die Lage ihrer Arbeiter besitzen, obwohl sie nun schon seit wer weiß wie vielen Jahren daran herumuntersuchen und herumflicken. Daher aber auch der tiefe Groll der ganzen Arbeiterklasse von Glasgow bis London gegen die Reichen, von denen sie systematisch ausgebeutet und dann gefühllos ihrem Schicksal überlassen wird - ein Groll, der über nicht gar zu lange - man kann sie fast berechnen - in einer Revolution ausbrechen muß, gegen die die erste französische und das Jahr 1794 ein Kinderspiel sein wird.”


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spinning jenny                                   https://youtu.be/an4hi0knlaA


spinning throstle-kettenstuhl              https://youtu.be/ixs6TCm56x0


spinning mule   samuel crompton  https://youtu.be/AloWMoc-3WU

  






Das industrielle Proletariat

<253> Die Reihenfolge, nach der wir die verschiedenen Sektionen des Proletariats zu betrachten haben, ergibt sich von selbst aus der vorhergehenden Geschichte seiner Entstehung. Die ersten Proletarier gehörten der Industrie an und wurden direkt durch sie erzeugt; die industriellen Arbeiter, diejenigen, die sich mit der Verarbeitung von Rohstoffen beschäftigen, werden also zunächst unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Erzeugung des industriellen Materials, der Roh- und Brennstoffe selbst, wurde erst infolge des industriellen Umschwungs bedeutend und konnte so ein neues Proletariat hervorbringen: die Arbeiter in den Kohlengruben und Metallbergwerken. In dritter Instanz wirkte die Industrie auf den Ackerbau und in vierter auf Irland zurück, und demgemäß ist auch den dahin gehörenden Fraktionen des Proletariats ihre Stelle anzuweisen. Wir werden auch finden, daß, etwa mit Ausnahme der Irländer, der Bildungsgrad der verschiedenen Arbeiter genau im Verhältnis zu ihrem Zusammenhange mit der Industrie steht und daß also die industriellen Arbeiter am meisten, die bergbauenden schon weniger und die ackerbauenden noch fast gar nicht über ihre Interessen aufgeklärt sind. Wir werden selbst unter den industriellen Proletariern diese Reihenfolge wiederfinden und sehn, wie die Fabrikarbeiter, diese ältesten Kinder der industriellen Revolution, von Anfang an bis jetzt der Kern der Arbeiterbewegung gewesen sind und wie die übrigen ganz in demselben Maße sich der Bewegung anschlossen, in welchem ihr Handwerk von dem Umschwung der Industrie ergriffen wurde; wir werden so an dem Beispiel Englands, an dem gleichen Schritt, den die Arbeiterbewegung mit der industriellen Bewegung hielt, die geschichtliche Bedeutung der Industrie verstehen lernen.

Da aber in diesem Augenblick so ziemlich das ganze industrielle Proletariat von der Bewegung ergriffen ist und die Lage der einzelnen Sektionen, eben weil sie alle industriell sind, viel Gemeinsames hat, so werden wir dies vorweg durchzunehmen haben, damit wir später jede einzelne Verzweigung desto schärfer in ihrer Eigentümlichkeit betrachten können.

<254> Schon oben wurde angedeutet, wie die Industrie den Besitz in den Händen weniger zentralisiert. Sie erfordert große Kapitalien, mit denen sie kolossale Etablissements errichtet und dadurch die kleine, handwerksmäßige Bourgeoisie ruiniert - und mit denen sie sich die Naturkräfte dienstbar macht, um den einzelnen Handarbeiter aus dem Markte zu schlagen. Die Teilung der Arbeit, die Benutzung der Wasser- und besonders der Dampfkraft und der Mechanismus der Maschinerie - das sind die drei großen Hebel, mit denen die Industrie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts daran arbeitet, die Welt aus ihren Fugen zu heben. Die kleine Industrie schuf die Mittelklasse, die große schuf die Arbeiterklasse und hob die wenigen Auserwählten der Mittelklasse auf den Thron, aber nur um sie einst desto sicherer zu stürzen. Einstweilen indes ist es ein nicht geleugnetes und leicht erklärbares Faktum, daß die zahlreiche kleine Mittelklasse der "guten alten Zeit" durch die Industrie zerstört und in reiche Kapitalisten auf der einen und arme Arbeiter auf der andern Seite aufgelöst ist (1).

Die zentralisierende Tendenz der Industrie bleibt aber hierbei nicht stehen. Die Bevölkerung wird ebenso zentralisiert wie das Kapital; ganz natürlich, denn in der Industrie wird der Mensch, der Arbeiter, nur als ein Stück Kapital angesehen, dem der Fabrikant dafür, daß es ihm zur Benutzung sich hingibt, Zinsen, unter dem Namen Arbeitslohn, erstattet. Das industrielle große Etablissement erfordert viele Arbeiter, die zusammen in einem Gebäude arbeiten; sie müssen zusammen wohnen, sie bilden schon bei einer mäßigen Fabrik ein Dorf. Sie haben Bedürfnisse und zur Befriedigung derselben andere Leute nötig; Handwerker, Schneider, Schuster, Bäcker, Maurer und Schreiner ziehen sich hin. Die Bewohner des Dorfs, namentlich die jüngere Generation, gewöhnt sich an die Fabrikarbeit, wird mit ihr vertraut, und wenn die erste Fabrik, wie sich versteht, nicht alle beschäftigen kann, so fällt der Lohn, und die Ansiedlung neuer Fabrikanten ist die Folge davon. So wird aus dem Dorf eine kleine Stadt, aus der kleinen Stadt eine große. Je größer die Stadt, desto größer die Vorteile der Ansiedlung. Man hat Eisenbahnen, Kanäle und Landstraßen; die Auswahl zwischen den erfahrnen Arbeitern wird immer größer; man kann neue Etablissements wegen der Konkurrenz unter den Bauleuten und Maschinenfabrikanten, die man gleich bei der Hand hat, billiger anlegen als in einer entferntern Gegend, wohin Bauholz, Maschinerie, Bauleute und Fabrikarbeiter erst transportiert werden müssen; man hat einen <255>Markt, eine Börse, an der sich die Käufer drängen; man steht in direkter Verbindung mit den Märkten, die das rohe Material liefern oder die fertige Ware abnehmen. Daher die wunderbar schnelle Vermehrung der großen Fabrikstädte. Allerdings hat das platte Land dagegen wieder den Vorteil, daß dort gewöhnlich der Lohn billiger ist; das platte Land und die Fabrikstadt bleiben so in fortwährender Konkurrenz, und wenn heute der Vorteil auf Seite der Stadt ist, so sinkt morgen draußen der Lohn wieder so viel, daß neue Anlagen auf dem Lande sich vorteilhafter anbringen lassen. Aber dabei bleibt die zentralisierende Tendenz der Industrie doch in voller Kraft, und jede neue Fabrik, die auf dem Lande angelegt wird, trägt den Keim zu einer Fabrikstadt in sich. Wäre es möglich, daß dies tolle Treiben der Industrie noch einhundert Jahre so voranginge, so würde jeder der industriellen Bezirke Englands eine einzige große Fabrikstadt sein und Manchester und Liverpool bei Warrington oder Newton sich begegnen; denn auch im Handel wirkt diese Zentralisation der Bevölkerung ganz auf dieselbe Weise, und darum monopolisieren ein paar große Häfen wie Liverpool, Bristol, Hull und London fast ganz den Seehandel des britischen Reichs.

Da in diesen großen Städten die Industrie und der Handel am vollständigsten zu ihrer Entwicklung kommen, so treten also auch hier ihre Konsequenzen in bezug auf das Proletariat am deutlichsten und offensten hervor. Hier ist die Zentralisation des Besitzes auf den höchsten Punkt gekommen; hier sind die Sitten und Verhältnisse der guten alten Zeit am gründlichsten vernichtet, hier ist man weit genug gekommen, um sich bei dem Namen Old merry England <Altes glückliches England> gar nichts mehr denken zu können, weil man das Old England selbst nicht einmal aus der Erinnerung und den Erzählungen der Großeltern mehr kennt. Daher gibt es hier auch nur eine reiche und eine arme Klasse, denn die kleine Bourgeoisie verschwindet mit jedem Tage mehr. Sie, die stabilste Klasse früher, ist jetzt die beweglichste geworden; sie besteht nur noch aus den wenigen Trümmern einer vergangenen Zeit und einer Anzahl von Leuten, die sich gern ein Vermögen machen wollen, kompletten Industrierittern und Spekulanten, von denen einer reich wird, wo neunundneunzig Bankerott machen und wo von diesen neunundneunzig mehr als die Hälfte nur vom Bankerottieren leben.

Die ungeheure Mehrzahl in diesen Städten bilden aber die Proletarier, und wie es diesen ergeht, welchen Einfluß die große Stadt auf sie ausübt, werden wir jetzt untersuchen.







Die nächsten Kapitel  des Buches beschreiben in einer unglaublich schrecklichen, detailreichen Monotonie die Schrecklichkeit der Lebensbedingungen der Textil-Arbeiter in England, die das Weiterlesen für uns heute  zu einer großen Herausforderung machen. 

Diese Schilderung der Lebensbedingungen der Arbeiter werden immer wieder unterstützt von Zeitungsberichten und wissenschaftlichen Arbeiten, und so aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Die großen Städte mit ihren Arbeitervierteln direkt neben den Villen der Reichen; die Anlage der Häuser, so dass nicht einmal mehr ausreichende Ventilation gegeben ist, ganz zu schweigen von hygienischen Voraussetzungen und einer ausreichend abwechslungsreichen Diät.

Der Nachweis, dass die Sterbeziffern Hand in Hand gehen mit der Qualität der Behausungen und dem Mangel an sanitären Einrichtungen und dem Fehlen entsprechender ärztlicher Betreuung.

Im Kapitel : Resultate stellt Engels fest, dass die Lebens beding-ungen der Arbeiter, nicht nur als Todschlag, sondern vielmehr als Mord bezeichnet werden müssen.


“Der Bericht über den Gesundheitszustand der arbeitenden Klassen enthält eine Angabe, die dasselbe Faktum beweist. In Liverpool war 1840 die durchschnittliche Lebensdauer der höheren Klassen (gentry, professional men etc.) 35, der Geschäftsleute und bessergestellten Handwerker 22 Jahre, der Arbeiter, Tagelöhner und der dienenden Klasse überhaupt nur 15 Jahre. Die Parlamentsberichte enthalten noch eine Menge ähnlicher Tatsachen.

Die Sterblichkeitslisten werden hauptsächlich durch die vielen Todesfälle unter den kleinen Kindern der Arbeiterklasse so hoch gesteigert. Der zarte Körper eines Kindes widersteht den ungünstigen Einflüssen einer niedrigen Lebenslage am wenigsten; die Vernachlässigung, der es oft ausgesetzt ist, wenn beide Eltern arbeiten oder einer von beiden tot ist, rächt sich sehr bald, und so darf man sich nicht wundern, wenn z.B. in Manchester, laut dem letzterwähnten Bericht, über 57 Prozent der Arbeiterkinder vor dem fünften Jahre sterben, während von den Kindern der höheren Klassen nur 20 Prozent und im Durchschnitt aller Klassen in Landdistrikten von allen Kindern unter dem fünften Jahre nicht volle 32 Prozent (9) sterben.”


…..


“Die Anzahl der Verhaftungen für Kriminalverbrechen betrug


im Jahre 1805

4605

im Jahre 1810

5146

im Jahre 1815

7818

im Jahre 1820

13 710

im Jahre 1825

14 437

im Jahre 1830

18 107

im Jahre 1835

20 731

im Jahre 1840

27 187

im Jahre 1841

27 760

im Jahre 1842

31 309


 in England und Wales allein; also versiebenfachten sich die Verhaftungen in 37 Jahren.”


….. 


Die einzelnen Arbeitszweige

Die Fabrikarbeiter im engeren Sinne

<360> Wenn wir jetzt auf die einzelnen wichtigeren Zweige des englischen Industrieproletariats näher eingehen sollen, so werden wir, dem oben (S. 253) aufgestellten Prinzip zufolge, mit den Fabrikarbeitern, d.h. denen, die unter dem Fabrikakt stehen, anzufangen haben. Dies Gesetz reguliert die Arbeitszeit der Fabriken, in denen Wolle, Seide, Baumwolle und Flachs mit Hülfe von Wasser- oder Dampfkraft gesponnen oder gewoben wird, und erstreckt sich deshalb auf die bedeutendsten Zweige der englischen Industrie. Die von ihnen lebende Klasse ist die zahlreichste, älteste, intelligenteste und energischste, daher aber auch die unruhigste und der Bourgeoisie am meisten verhaßte von allen englischen Arbeitern; sie steht, und speziell die Baumwollfabrikarbeiter stehen an der Spitze der Arbeiterbewegung, wie ihre Brotherren, die Fabrikanten, namentlich von Lancashire, an der Spitze der Bourgeoisie-Agitation.

Wir sahen schon in der Einleitung, wie die in den genannten Artikeln arbeitende Bevölkerung auch zuerst durch neue Maschinen aus ihren bisherigen Verhältnissen gerissen wurde. Es darf uns daher nicht wundern, wenn der Fortschritt der mechanischen Erfindung auch in späteren Jahren gerade sie am meisten und anhaltendsten berührte. Die Geschichte der Baumwollenfabrikation, wie wir sie bei Ure (1), Baines (2) u.a. lesen, weiß auf jeder Seite von neuen Verbesserungen zu erzählen, und in den übrigen der genannten Industriezweige sind die meisten derselben ebenfalls eingebürgert worden. Fast überall ist die Handarbeit durch Maschinenarbeit ersetzt, fast alle Manipulationen werden durch die Kraft des Wassers oder Dampfs getan, und noch jedes Jahr bringt neue Verbesserungen.

<361> In einem geordneten sozialen Zustande wären solche Verbesserungen nur erfreulich; im Zustande des Kriegs Aller gegen Alle reißen einzelne den Vorteil an sich und bringen dadurch die meisten um die Mittel der Existenz. Jede Verbesserung der Maschinerie wirft Arbeiter außer Brot, und je bedeutender die Verbesserung, desto zahlreicher die arbeitslos gewordene Klasse; jede bringt demnach auf eine Anzahl Arbeiter die Wirkung einer Handelskrisis hervor, erzeugt Not, Elend und Verbrechen. Nehmen wir einige Beispiele. Da gleich die erste Erfindung, die Jenny (siehe oben), von einem Arbeiter getrieben, wenigstens das Sechsfache von dem lieferte, was das Spinnrad in gleicher Zeit machen konnte, so wurden durch jede neue Jenny fünf Spinner brotlos. Die Throstle, die wiederum bedeutend mehr lieferte, als die Jenny und ebenfalls nur einen Arbeiter brauchte, machte noch mehr brotlos. Die Mule, die wieder weniger Arbeiter im Verhältnis zum Produkt hatte <(1892) machte>, hatte dieselbe Wirkung, und jede Verbesserung der Mule, d.h. jede Vermehrung der Spindelzahl an der Mule, verminderte wiederum die Zahl der benötigten Arbeiter. Diese Vermehrung der Spindelzahl an der Mule ist aber so bedeutend, daß dadurch ganze Scharen von Arbeitern brotlos geworden sind; denn wenn früher ein "Spinner" mit ein paar Kindern (piecers) 600 Spindeln in Bewegung setzte, so konnte er nun 1 400 bis 2 000 Spindeln auf zwei Mules beaufsichtigen - zwei erwachsene Spinner und ein Teil der von ihnen beschäftigten Piecer wurden dadurch brotlos. Und seitdem bei einem sehr bedeutenden Teile der Mulespinnereien die self-actors eingeführt sind, fällt die Rolle des Spinners ganz weg und wird von der Maschine getan. Mir liegt ein Buch vor (3), das von dem anerkannten Führer der Chartisten in Manchester, James Leach, herrührt. Der Mann hat in verschiedenen Industriezweigen, in Fabriken und Kohlenbergwerken jahrelang gearbeitet und ist mir persönlich als brav, zuverlässig und tüchtig bekannt. Ihm standen, seiner Parteistellung zufolge, die ausgedehntesten Details über die verschiedenen Fabriken, die von den Arbeitern selbst gesammelt wurden, zu Gebote, und er gibt nun Tabellen, aus denen hervorgeht, daß 1829 in 35 Fabriken 1 083 Mulespinner mehr angestellt waren als 1841, obwohl die Anzahl der Spindeln in diesen 35 Fabriken sich um 99 429 vermehrt hat. Er führt 5 Fabriken auf, in denen gar keine Spinner mehr sind, da diese Fabriken <362> nur self-actors besitzen. Während die Zahl der Spindeln sich um 10 Prozent vermehrte, nahm die der Spinner um mehr als 60 Prozent ab. Und, fügt Leach hinzu, seit 1841 sind soviele Verbesserungen durch Verdopplung der Spindelreihen (double decking) und sonst eingeführt worden, daß in einigen der genannten Fabriken seit 1841 wieder die Hälfte der Spinner entlassen worden sind; in einer Fabrik allein, wo vor kurzem 80 Spinner waren, sind noch 20, die übrigen sind weggeschickt oder müssen Kinderarbeit für Kinderlohn tun.”


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Arbeiterbewegungen

<430> Man wird mir zugehen, selbst wenn ich es nicht so oft im einzelnen nachgewiesen hätte, daß die englischen Arbeiter sich in dieser Lage nicht glücklich fühlen können; daß die ihrige keine Lage ist, in der ein Mensch oder eine ganze Klasse von Menschen menschlich denken, fühlen und leben können <(1892) kann>. Die Arbeiter müssen sich also bestreben, aus dieser vertierenden Lage herauszukommen, sich eine bessere, menschlichere Stellung zu verschaffen, und dies können sie nicht tun, ohne gegen das Interesse der Bourgeoisie als solcher, das eben in der Ausbeutung der Arbeiter besteht, anzukämpfen: die Bourgeoisie aber verteidigt ihr Interesse mit allen Kräften, die sie durch den Besitz und die ihr zu Gebote stehende Staatsmacht aufzuwenden imstande ist. Sowie der Arbeiter sich aus der jetzigen Lage der Dinge herausarbeiten will, wird der Bourgeois sein erklärter Feind.

Der Arbeiter merkt es aber außerdem jeden Augenblick, daß die Bourgeoisie ihn wie eine Sache, wie ihr Eigentum behandelt, und schon deshalb tritt er als Feind der Bourgeoisie auf. Ich habe oben an hundert Beispielen nachgewiesen und hätte an hundert andern nachweisen können, daß unter den jetzigen Verhältnissen der Arbeiter seine Menschheit nur durch den Haß und die Empörung gegen die Bourgeoisie retten kann. Und daß er mit der heftigsten Leidenschaft gegen die Tyrannei der Besitzenden protestieren kann, dafür sorgt seine Erziehung oder vielmehr Erziehungslosigkeit und das viele heiße irische Blut, das in die englische Arbeiterklasse übergegangen ist. Der englische Arbeiter ist kein Engländer mehr, kein kalkulierender Geldmensch wie sein besitzender Nachbar, er hat voller entwickelte Gefühle, seine angeborne nordische Kälte wird durch die Ungebundenheit, in der seine Leidenschaften sich ausbilden und die Herrschaft über ihn erringen konnten, aufgewogen. Die Verstandesbildung, die die selbstsüchtige Anlage des eng- <431> lischen Bourgeois so bedeutend entwickelt, die die Selbstsucht zu seiner herrschenden Leidenschaft gemacht und alle Gefühlskraft auf den einen Punkt der Geldgier konzentriert hat, fehlt dem Arbeiter, und dafür sind seine Leidenschaften stark und mächtig wie beim Ausländer. Die englische Nationalität ist im Arbeiter vernichtet.

Wenn, wie wir sahen, dem Arbeiter kein einziges Feld für die Betätigung seiner Menschheit gelassen ist als die Opposition gegen seine ganze Lebenslage, so ist es natürlich, daß gerade in dieser Opposition die Arbeiter am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten erscheinen müssen. Wir werden sehen, daß alle Kraft, alle Tätigkeit der Arbeiter sich auf diesen einen Punkt richtet und daß selbst die Bemühungen, sich sonstige humane Bildung zu erwerben, alle in direkter Verbindung mit ihm stehen. Wir werden allerdings von einzelnen Gewaltsamkeiten und selbst Brutalitäten zu berichten haben, aber es ist immer zu bedenken, daß der soziale Krieg in England offen besteht und daß, wenn es das Interesse der Bourgeoisie ist, diesen Krieg heuchlerisch, unter dem Scheine des Friedens und selbst der Philanthropie zu führen, dem Arbeiter nur eine Offenlegung der wahren Verhältnisse, eine Zerstörung dieser Heuchelei dienen kann; daß also selbst die gewaltsamsten Feindseligkeiten der Arbeiter gegen die Bourgeoisie und ihre Diener nur der offene, unverhohlene Ausdruck dessen sind, was die Bourgeoisie den Arbeitern verstohlen und heimtückisch antut.

Die Empörung der Arbeiter gegen die Bourgeoisie hat bald nach der industriellen Entwicklung angefangen und verschiedene Phasen durchgemacht. Es ist hier nicht der Ort, die historische Bedeutung dieser Phasen für die Entwicklung des englischen Volks näher darzulegen; dies muß ich mir für eine spätere Arbeit vorbehalten und mich einstweilen auf die bloßen Tatsachen, soweit sie zur Charakteristik der Lage des englischen Proletariats dienen, beschränken.

Die erste, rohste und unfruchtbarste Form dieser Empörung war das Verbrechen. Der Arbeiter lebte in Not und Elend und sah, daß andere Leute es besser hatten als er. Seinem Verstande leuchtete nicht ein, weshalb er grade, der doch mehr für die Gesellschaft tat als der reiche Faulenzer, unter diesen Umständen leiden sollte. Die Not besiegte noch dazu den angestammten Respekt vor dem Eigentum - er stahl. Wir sahen, wie mit der Ausdehnung der Industrie das Verbrechen zunahm, wie die jährliche Zahl der Verhaftungen im steten Verhältnis zu der der konsumierten Baumwollballen steht.

Aber die Arbeiter sahen bald ein, daß dies nichts half. Die Verbrecher konnten nur einzeln, nur als Individuen durch ihren Diebstahl gegen die <432> bestehende Gesellschaftsordnung protestieren; die ganze Macht der Gesellschaft warf sich auf jeden einzeln und erdrückte ihn mit einer ungeheuren Übermacht. Zudem war der Diebstahl die ungebildetste, bewußtloseste Form der Protestation und schon deshalb nie der allgemeine Ausdruck für die öffentliche Meinung der Arbeiter, obwohl sie ihn im stillen billigen mochte. Die Arbeiterklasse ergriff erst Opposition gegen die Bourgeoisie, als sie sich gewaltsam der Einführung von Maschinerie widersetzte, wie dies gleich im Anfange der industriellen Bewegung geschah. Die ersten Erfinder, Arkwright usw., wurden schon auf diese Weise verfolgt und ihre Maschinen zerschlagen; später kamen eine Menge von Aufständen gegen Maschinerie vor, bei denen es fast genauso zuging wie bei den böhmischen Druckerunruhen im Juni 1844; die Fabriken wurden demoliert und die Maschinen zertrümmert.

Auch diese Art der Opposition war nur vereinzelt, auf gewisse Lokalitäten beschränkt und richtete sich nur gegen eine einzige Seite der jetzigen Verhältnisse. War der augenblickliche Zweck erreicht, so fiel die volle Wucht der gesellschaftlichen Macht auf die wieder wehrlosen Übeltäter und züchtigte sie nach Herzenslust, während die Maschinerie dennoch eingeführt wurde. Man mußte eine neue Form für die Opposition finden.

Hierzu half ein Gesetz, das vom alten, unreformierten, oligarchisch-torystischen Parlament erlassen wurde, ein Gesetz, das später, als durch die Reformbill der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat gesetzlich sanktioniert und die Bourgeoisie zur herrschenden Klasse erhoben wurde, nie mehr das Unterhaus passiert hätte. Dies Gesetz ging im Jahre 1824 durch und hob alle Akte auf, durch welche bisher Verbindungen zwischen Arbeitern zu Arbeiterzwecken verboten gewesen waren. Die Arbeiter bekamen das bis her nur der Aristokratie und Bourgeoisie gehörende Recht der freien Assoziation. Geheime Verbindungen hatten zwar schon bisher immer unter den Arbeitern bestanden, hatten es aber nie zu großen Resultaten bringen können. In Schottland hatte unter andern, wie Symons ("Arts and Artizans", p. 137 ff.) erzählt, schon 1812 unter den Webern in Glasgow eine allgemeine Arbeitseinstellung stattgefunden, die durch eine geheime Assoziation zustandegebracht wurde. Sie wiederholte sich 1822, und bei dieser Gelegenheit wurde zweien Arbeitern, die sich der Assoziation nicht anschließen wollten und infolgedessen von den Assoziierten als Verräter an ihrer Klasse betrachtet wurden, Vitriolöl ins Gesicht geschüttet, wodurch sie den Gebrauch der Augen verloren. Ebenso war 1818 die Assoziation der schottischen Grubenarbeiter mächtig genug, um eine allgemeine Arbeitseinstellung durchsetzen zu können. Diese Assoziationen ließen ihre Mitglieder einen Eid der Treue und Verschwiegenheit ablegen, hatten regelmäßige Listen, Kassen, Buch- <433> führung und lokale Verzweigungen. Aber die Heimlichkeit, mit der alles getrieben wurde, lähmte ihre Entwicklung. Als dagegen die Arbeiter 1824 das freie Assoziationsrecht erhielten, wurden diese Verbindungen sehr bald über ganz England ausgedehnt und mächtig. In allen Arbeitszweigen bildeten sich solche Vereine (trades unions) mit der unverhohlenen Absicht, den einzelnen Arbeiter gegen die Tyrannei und Vernachlässigung der Bourgeoisie zu schützen. Ihre Zwecke waren: den Lohn festzustellen und en masse, als Macht mit den Arbeitgebern zu unterhandeln, den Lohn nach dem Nutzen <(1892) Profit> des Arbeitgebers zu regulieren, ihn zu erhöhen, wenn gelegene Zeit kam, und ihn in jedem einzelnen Handwerke überall gleich hoch zu erhalten; deshalb pflegten sie mit den Kapitalisten wegen einer allgemein zu beobachtenden Lohnskala zu unterhandeln und jedem einzelnen, der sich weigerte, dieser Skala beizutreten, die Arbeit aufzukündigen. Ferner, durch Beschränkung der Annahme von Lehrlingen die Nachfrage nach Arbeitern immer lebhaft und dadurch den Lohn hochzuhalten, der hinterlistigen Lohnverkürzung der Fabrikanten durch Einführung von neuen Maschinen und Werkzeugen etc. soviel wie möglich entgegenzuarbeiten; und endlich, brotlose Arbeiter durch Geldmittel zu unterstützen. 


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Die unglaubliche Häufigkeit dieser Arbeitseinstellungen beweist es am besten, wieweit der soziale Krieg schon über England hereingebrochen ist. Es vergeht keine Woche, ja fast kein Tag, wo nicht hier oder dort ein Strike vorkommt - bald wegen Lohnverkürzung, bald wegen verweigerter Lohnerhöhung, bald wegen Beschäftigung von Knobsticks, bald wegen verweigerter Abstellung von Mißbräuchen oder schlechten Einrichtungen, bald wegen neuer Maschinerie, bald aus hundert andern Ursachen. Diese Strikes sind allerdings erst Vorpostenscharmützel, zuweilen auch bedeutendere Gefechte; sie entscheiden nichts, aber sie sind der sicherste Beweis, daß die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie herannaht. Sie sind die Kriegsschule der Arbeiter, in der sie sich auf den großen Kampf vorbereiten, der nicht mehr zu vermeiden ist; sie sind die Pronunciamientos einzelner Arbeitszweige über ihren Anschluß an die große Arbeiterbewegung. 


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Da nun die Arbeiter das Gesetz nicht respektieren, sondern bloß seine Macht gelten lassen, wo sie nicht die Macht haben, es zu ändern, so ist das allernatürlichste, daß sie wenigstens Vorschläge zur Änderung des Gesetzes haben <(1892) machen>, daß sie an die Stelle des Bourgeoisie-Gesetzes ein Proletariergesetz stellen wollen. Dies vorgeschlagene Gesetz des Proletariats ist die Volkscharte (people's charter), die der Form nach rein politisch ist und eine demokratische Basis für das Unterhaus verlangt. Der Chartismus ist die kompakte Form der Opposition gegen die Bourgeoisie. In den Verbindungen und Turnouts blieb die Opposition immer einzeln, es waren einzelne Arbeiter oder Arbeitersektionen, die gegen einzelne Bourgeois kämpften; wurde der Kampf allgemein, so war dies wenig <(1892) selten> Absicht von seiten der Arbeiter, und wenn es absichtlich geschah, so lag der Absicht der Chartismus zugrunde. Aber im Chartismus ist es die ganze Arbeiterklasse, die gegen die Bourgeoisie aufsteht und vor allem die politische Gewalt derselben, die gesetzliche Mauer, mit der sie sich umgeben hat, angreift. Der Chartismus ist hervorgegangen aus der demokratischen Partei, die sich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, zugleich mit und in dem Proletariat, entwickelte, während der französischen Revolution an Stärke gewann, nach dem Frieden als "radikale" Partei auftrat, damals in Birmingham und Manchester, wie früher in London, ihren Hauptsitz hatte, den Oligarchen des alten Parlaments durch Vereinigung mit der liberalen Bourgeoisie die Reformbill abnötigte und sich seitdem immer schärfer als Arbeiterpartei gegenüber der Bourgeoisie konsolidierte. l838 <(1845) und (1892) irrtumlich: 1835> entwarf ein Komitee der allgemeinen Londoner Arbeitergesellschaft (Working Man's Association), William Levett an der Spitze, die Volkscharte, deren "sechs Punkte" folgende sind: 1. Allgemeines Stimmrecht für jeden mündigen Mann, der bei gesundem Verstande und keines Verbrechens überführt ist; 2. jährlich zu erneuernde Parlamente; 3. Diäten für die Parlamentsmitglieder, damit auch Unbemit- <445> telte eine Wahl annehmen können; 4. Wahlen durch Ballotage, um Bestechung und Einschüchterung durch die Bourgeoisie zu vermeiden; 5. gleiche Wahldistrikte, um gleich billige Repräsentation zu sichern, und 6. Abschaffung der - ohnehin illusorischen - ausschließlichen Wählbarkeit derjenigen, die 300 Pfd. Sterling in Grundbesitz haben, so daß jeder Wähler auch wählbar ist. - Diese sechs Punkte, die sich alle auf die Konstituierung des Unterhauses beschränken, sind, so unschuldig sie aussehen, dennoch hinreichend, die englische Verfassung samt Königin und Oberhaus zu zertrümmern. Das sogenannte monarchische und aristokratische Element der Verfassung kann sich nur deshalb halten, weil die Bourgeoisie ein Interesse an seiner scheinbaren Erhaltung hat; und eine andere als eine bloße Scheinexistenz hat beides nicht mehr. Aber wenn erst die ganze öffentliche Meinung hinter dem Unterhause steht, wenn dies den Willen nicht mehr bloß der Bourgeoisie, sondern der ganzen Nation ausdrückt, so wird es alle Macht so vollständig in sich absorbieren, daß auch der letzte Heiligenschein von dem Haupte des Monarchen und der Aristokratie fällt. Der englische Arbeiter respektiert weder Lords noch Königin, während diese von der Bourgeoisie zwar der Sache nach wenig gefragt, aber der Person nach vergöttert werden. Der englische Chartist ist politisch Republikaner, obgleich er das Wort nie oder doch selten in den Mund nimmt; während er allerdings mit den republikanischen Parteien aller Länder sympathisiert und sich lieber einen Demokraten nennt. Aber er ist mehr als bloßer Republikaner; seine Demokratie ist keine bloß politische.


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Schon wurde von vielen Seiten die schon früher (1839) von den Chartisten angeregte Idee eines "heiligen Monats", eines allgemeinen Feierns aller Arbeiter, wieder aufgenommen; aber diesmal waren es nicht die Arbeiter, die feiern wollten, sondern die Fabrikanten, die ihre Fabriken schließen, die Arbeiter in die Landgemeinden, auf das Besitztum der Aristokratie schicken und dadurch das torystische Parlament und die Regierung zur Aufhebung der Kornzölle zwingen wollten. Natürlich wäre eine Empörung die Folge davon gewesen, aber die Bourgeoisie stand sicher im Hintergrunde und konnte den Erfolg abwarten, ohne sich, schlimmstenfalls, zu kompromittieren. Ende Juli fing das Geschäft an, sich zu bessern; es war die höchste Zeit, und um die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen, setzten jetzt, bei steigender Konjunktur (vgl. die Handelsberichte aus Manchester und Leeds, Ende Juli und Anfang August) drei Firmen in Salybridge den Lohn herunter - ob auf eigne Hand oder im Einverständnis mit den übrigen Fabrikanten und besonders der Ligue, will ich nicht entscheiden. Zwei zogen indes wieder zurück; die dritte, William Bailey und Brüder, blieb fest und sagte den sich beschwerenden Arbeitern, wenn dies ihnen nicht zusage, so täten sie vielleicht besser daran, eine Zeitlang zu spielen. Diese spöttische Äußerung nahmen die Arbeiter mit Hurrarufen <448> auf, verließen die Fabrik, durchzogen den Ort und riefen alle Arbeiter zum Feiern auf. In wenig Stunden stand jede Fabrik still, und die Arbeiter zogen in Prozession nach Mottram Moor, um ein Meeting zu halten. Dies war am 5. August. Am 8. August zogen sie nach Ashton und Hyde, fünftausend Mann stark, setzten alle Fabriken und Kohlengruben still und hielten Meetings, in denen aber nicht von Abschaffung der Korngesetze, wie die Bourgeoisie gehofft hatte, sondern von "ehrlichem Tagelohn für ehrliche Tagesarbeit" (a fair day's wage for a fair day's work) die Rede war. Am 9. August zogen sie nach Manchester, wurden von den Behörden, die alle Liberale waren, zugelassen und stellten die Fabriken still; am 11. waren sie in Stockport, wo ihnen erst, als sie das Armenhaus, dies Lieblingskind der Bourgeoisie, erstürmten, Widerstand geleistet wurde; am selben Tage war in Bolton allgemeines Feiern und Unruhen, denen sich die Behörden ebenfalls nicht widersetzten; bald war der Aufstand über alle Industriebezirke verbreitet, und alle Arbeiten, mit Ausnahme der Einsammlung der Ernte und der Zubereitung von Lebensmitteln, standen still. Aber auch die empörten Arbeiter blieben ruhig. Sie waren in diesen Aufstand hineingejagt, ohne es zu wollen; die Fabrikanten hatten sich mit Ausnahme eines einzigen - des Tory Birley in Manchester - der Arbeitseinstellung ganz gegen ihre Sitte nicht widersetzt; die Sache hatte angefangen, ohne daß die Arbeiter einen bestimmten Zweck hatten. Daher waren zwar alle darüber einig, daß sie sich nicht zum Besten ihrer korngesetzabschaffenden Fabrikanten wollten erschießen lassen, im übrigen aber wollten einige die Volkscharte durchsetzen, andere, die dies für zu frühzeitig hielten, bloß die Lohnsätze von 1840 erzwingen. Daran scheiterte die ganze Insurrektion. Wäre sie von Anbeginn eine absichtliche, bewußte Arbeiterinsurrektion gewesen, sie wäre wahrlich durchgedrungen; aber diese Massen, die von ihren Brotherren auf die Straße gejagt waren, ohne es zu wollen, die gar keine bestimmte Absicht hatten, konnten nichts tun. Inzwischen sah die Bourgeoisie, die keinen Finger gerührt hatte, um die Allianz vom 15. Februar zu betätigen, sehr bald ein, daß die Arbeiter sich nicht zu ihren Werkzeugen hergeben wollten und daß die Inkonsequenz, mit der sie sich von ihrem "gesetzlichen" Standpunkte entfernt hatte, ihr selbst Gefahr drohe; sie nahm daher ihre alte Gesetzlichkeit wieder vor und trat auf die Seite der Regierung gegen die Arbeiter, die sie selbst zum Aufstand erst gereizt und später forciert hatte. Sie ließ sich und ihre getreuen Diener zu Spezialkonstablen einschwören - auch die deutschen Kaufleute in Manchester nahmen daran teil und paradierten höchst unnützerweise mit ihren dicken Stöcken, die Zigarre im Munde, durch die Stadt - sie ließ in Preston auf das Volk feuern, und so stand dem absichtslosen Volksaufstand <449> auf einmal nicht nur die Militärmacht der Regierung, sondern auch die ganze besitzende Klasse gegenüber. Die Arbeiter, die ohnehin keinen Zweck hatten, gingen allmählich auseinander, und die Insurrektion verlief ohne schlimme Folgen. Nachträglich beging die Bourgeoisie noch eine Schändlichkeit auf die andere, suchte sich durch einen Abscheu vor gewaltsamem Einschreiten des Volks, der schlecht zu ihrer revolutionären Sprache vom Frühjahr paßte, weißzuwaschen, schob die Schuld des Aufstandes auf chartistische "Aufwiegler" etc., während sie selbst weit mehr als diese getan hatte, den Aufstand zuwege zu bringen, und nahm ihren alten Standpunkt der Heilighaltung des Gesetzes mit einer Unverschämtheit ohnegleichen wieder ein. Die Chartisten, die fast gar nichts zum Aufstande beigetragen, die nur dasselbe tun <(1892) taten>, was auch die Bourgeoisie vorhatte, nämlich die Gelegenheit benutzen - diese wurden vor Gericht gestellt und verurteilt, während die Bourgeoisie ohne Schaden davonkam und während der Arbeitsstockung ihre Vorräte mit Nutzen verkauft hatte.


Von diesem Augenblicke an war der Chartismus eine reine, von allen Bourgeoisie-Elementen befreite etc. Arbeitersache. Die "kompletten" Journale - "Weekly Dispatch", "Weekly Chronicle", "Examiner" etc. - fielen allmählich in die schläfrige Manier der übrigen liberalen Blätter, verteidigten die Handelsfreiheit, griffen die Zehnstundenbill und alle ausschließlichen Arbeitermotionen an und ließen den Radikalismus im ganzen wenig hervortreten. Die radikale Bourgeoisie schloß sich in allen Kollisionen den Liberalen gegen die Chartisten an und machte überhaupt die Korngesetzfrage, die für den Engländer die Frage der freien Konkurrenz ist, zu ihrer Hauptaufgabe. Dadurch geriet sie unter die Botmäßigkeit der liberalen Bourgeoisie und spielt jetzt eine höchst jämmerliche Rolle.

Die chartistischen Arbeiter dagegen nahmen sich mit doppeltem Eifer aller Kämpfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie an. Die freie Konkurrenz hat den Arbeitern Leiden genug gemacht, um ihnen verhaßt zu werden; ihre Vertreter, die Bourgeois, sind ihre erklärten Feinde. Der Arbeiter hat von der vollständigen Befreiung der Konkurrenz nur Nachteil zu erwarten. Seine bisherigen Forderungen, die Zehnstundenbill, Schutz des Arbeiters gegen den Kapitalisten, guter Lohn, garantierte Stellung, Abschaffung des neuen Armengesetzes, alles Dinge, die mindestens ebenso wesentlich zum Chartismus gehören wie die "sechs Punkte", gehen direkt gegen die freie Konkurrenz und Handelsfreiheit. Kein Wunder also, daß die Arbeiter, was die ganze englische Bourgeoisie nicht begreifen kann, von der freien Konkurrenz, Handelsfreiheit und Abschaffung der Korngesetze nichts wissen wollen und gegen letztere mindestens höchst gleichgültig, gegen ihre Verteidiger aber im höchsten Grade erbittert sind. Diese Frage ist gerade der Punkt, an dem sich das Proletariat von der Bourgeoisie, der Chartismus vom Radikalismus scheidet, und ein Bourgeoisverstand kann das nicht begreifen, weil er das Proletariat nicht begreifen kann.

Darin liegt aber auch der Unterschied der chartistischen Demokratie von aller bisherigen, politischen Bourgeoisie-Demokratie. Der Chartismus ist <451> wesentlich sozialer Natur. Die "sechs Punkte", die dem radikalen Bourgeois eins und alles sind, höchstens noch einige Reformen der Konstitution hervorrufen sollen, sind dem Proletarier nur das Mittel. "Politische Macht unser Mittel, soziale Glückseligkeit unser Zweck", das ist jetzt der deutlich ausgesprochene Wahlspruch der Chartisten. Die "Messer- und Gabel-Frage" des Predigers Stephens war nur für einen Teil der Chartisten von 1838 eine Wahrheit; sie ist es 1845 für alle. Es gibt keinen bloßen Politiker mehr unter den Chartisten. Und wenn auch ihr Sozialismus noch sehr wenig entwickelt ist, wenn bis jetzt ihr Hauptmittel gegen das Elend in der Parzellierung des Grundbesitzes (allotment-system) besteht, die doch schon durch die Industrie überwunden wurde (siehe Einleitung), wenn überhaupt ihre meisten praktischen Vorschläge (Schutz für den Arbeiter etc.) dem Scheine nach reaktionärer Natur sind, so ist einesteils schon in diesen Maßregeln selbst die Notwendigkeit begründet, daß sie entweder der Macht der Konkurrenz wieder fallen und den alten Zustand erneuern - oder aber die Aufhebung der Konkurrenz selbst herbeiführen müssen; und andernteils bestimmt es der jetzige unklare Zustand des Chartismus, die Lostrennung von der rein politischen Partei, daß gerade die unterscheidenden Merkmale des Chartismus, die in seiner sozialen Seite liegen, weiterentwickelt werden müssen. Die Annäherung an den Sozialismus kann nicht ausbleiben, besonders wenn die nächste Krisis, die auf den jetzigen lebhaften Zustand der Industrie und des Handels allerspätestens bis 1847 (6), wahrscheinlich aber schon im nächsten Jahre folgen muß, eine Krisis, die alle früheren an Heftigkeit und Wut weit übertreffen wird, durch die Not die Arbeiter immer mehr auf soziale statt auf politische Hülfsmittel verweisen wird. Die Arbeiter werden ihre Charte durchsetzen, das ist natürlich; aber bis dahin werden sie noch über vieles klarwerden, was sie durch die Charte durchsetzen können und wovon sie jetzt noch wenig wissen.


…..

Der englische Sozialismus kommt hier nur insofern in Betracht, als er auf die Arbeiterklasse influiert. Die englischen Sozialisten verlangen allmähliche Einführung der Gütergemeinschaft in "Heimatskolonien" von 2 000 bis 3 000 Menschen, welche Industrie und Ackerbau treiben, gleiche Rechte und gleiche Erziehung genießen - Erleichterung der Ehescheidung und Einführung einer vernünftigen Regierung mit vollständiger Meinungsfreiheit und Abschaffung der Strafen, die durch vernünftige Behandlung des Verbrechers ersetzt werden sollen. Dies sind ihre praktischen Vorschläge - die theoretischen Prinzipien gehen uns hier nichts an. Der Sozialismus ging von Owen, <452> einem Fabrikanten, aus und verfährt deshalb, während er der Sache nach über den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat hinausgeht, in seiner Form dennoch mit vieler Nachsicht gegen die Bourgeoisie und vieler Ungerechtigkeit gegen das Proletariat. Die Sozialisten sind durchaus zahm und friedfertig, erkennen die bestehenden Verhältnisse, so schlecht sie sind, insofern als gerechtfertigt an, als sie jeden andern Weg als den der öffentlichen Überzeugung verwerfen, und sind doch zu gleicher Zeit so abstrakt, daß sie in der jetzigen Form ihrer Prinzipien diese öffentliche Überzeugung nie gewinnen würden. Dabei klagen sie fortwährend über die Demoralisation der unteren Klassen, sind blind gegen das Fortschrittselement in dieser Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung und bedenken nicht, daß die Demoralisation des Privatinteresses und der Heuchelei unter den besitzenden Klassen bei weitem schlimmer ist. Sie erkennen keine historische Entwicklung an und wollen daher die Nation ohne weiteres, ohne Fortführung der Politik bis zu dem Ziele, wo sie sich selbst auflöst < In den englischen Ausgaben von 1887 und 1892 lautet dieser Teil des Satzes: , ...up to the point at which this transition becomes both possible and necessary [... bis zu dem Punkt, an welchem die Umwandlung sowohl möglich als auch notwendig wird].>, sogleich in den kommunistischen Zutand versetzen. Sie begreifen zwar, weshalb der Arbeiter gegen den Bourgeois aufgebracht ist, sehen aber diese Erbitterung, die doch das einzige Mittel ist, die Arbeiter weiterzuführen, für unfruchtbar an und predigen eine für die englische Gegenwart noch viel fruchtlosere Philanthropie und allgemeine Liebe. Sie erkennen nur die psychologische Entwicklung an, die Entwicklung des abstrakten Menschen, der außer aller Verbindung mit der Vergangenheit steht, wo doch die ganze Welt auf dieser Vergangenheit beruht und der einzelne Mensch mit ihr. Daher sind sie zu gelehrt, zu metaphysisch, und richten wenig aus. Sie rekrutieren sich teilweise aus der Arbeiterklasse, von der sie aber nur einen sehr kleinen Teil, freilich die Gebildetsten und Charakterfestesten, herübergezogen haben. In seiner jetzigen Gestalt wird der Sozialismus nie Gemeingut der Arbeiterklasse werden können; er wird sich sogar erniedrigen müssen, einen Augenblick auf den chartistischen Standpunkt zurückzutreten; aber der durch den Chartismus hindurchgegangene, von seinen Bourgeoisie-Elementen gereinigte, echt proletarische Sozialismus, wie er sich schon jetzt bei vielen Sozialisten und bei vielen Chartistenführern, die fast alle Sozialisten sind O7(7), entwickelt, wird allerdings, und das in kurzem, eine bedeutende Rolle in der Entwicklungsgeschichte des englischen Volkes übernehmen. Der englische Sozialismus, <453> der in seiner Basis weit über den französischen Kommunismus hinausgeht, in der Entwicklung < In den englischen Ausgaben von 1887 und 1892: theoretical development [theoretischen Entwicklung].> aber hinter ihm zurückbleibt, wird einen Augenblick auf den französischen Standpunkt zurückgehen müssen, um später über ihn hinauszugehen. Bis dahin werden sich freilich die Franzosen auch wohl weiterentwickeln. Der Sozialismus ist zu gleicher Zeit der entschiedenste Ausdruck der unter den Arbeitern herrschenden Irreligiosität, und darin so entschieden, daß die bewußtlos, bloß praktisch irreligiösen Arbeiter oft vor der Schärfe dieses Ausdrucks zurückschrecken. Aber auch hier wird die Not die Arbeiter zwingen, einen Glauben aufzugeben, von dem sie mehr und mehr einsehen, daß er nur dazu dient, sie schwach und ergeben in ihr Schicksal, gehorsam und treu gegen die sie aussaugende besitzende Klasse machen.








Samstag, 12. Dezember 2020

Piketty und Schulmeister zur Coronakrise

Ende Mai 2020 habe ich eine Präsentation zusammengestellt, in der ich die Sichtweisen von Schulmeister und Piketty aus ihren Büchern und aktuellen Interviews vorstelle und vergleiche.

Hier der Link zur Präsentation.


Inhalt:

  • Piketty‘s Vortrag in Wien
  • Aktuelle Interviews mit Piketty
  • Rückblick Schulmeister‘s Buch
  • Aktuelle Interviews mit Schulmeister
  • Vergleich der Standpunkte
  • Fragen, Diskussion und mögliche Projekte

Vergleich:

  • Beide bezeichne ich als „optimistische Technokraten“
  • Wenn nur die richtigen Maßnahmen gesetzt werden, wird es besser werden 
  • Beide fordern einen intensiven Dialog
  • Piketty ist revolutionärer, konzentriert sich auf Steuern zur Umverteilung, ruft zur Mobilisierung und Diskussion auf
  • Schulmeister stellt die kapitalistische Wirtschaft nicht infrage; er setzt auf ein breiteres Bündel von Maßnahmen zur radikalen Bändigung des Kapitalismus. 

 

In der aktuellen Coronakrise entwickelt sich eine rege Geschäftstätigkeit.
Ich denke, dass wir gerade erleben, wie eine neue Phase des Kapitalismus entsteht:


Ich freue mich über eine rege Diskussion!

 

 

Philipp Manow

 https://drive.google.com/file/d/1zL092qYgO8kNewv78CFa-DPs9kolWdBp/view?usp=sharing 

Auszug und Zusammenfassung des Buches von Philipp Manow für enBloc-Diskussion

Sonntag, 29. November 2020

Annäherung an Debord

 

Eine Annäherung an Guy Debord [1931 - 1994]

Die Gesellschaft des Spektakels“


Debords Werk steht an der spannenden Schnittstelle von Politik und Kunst. In dieser kurzen Übersicht sind nur ein paar wesentliche Punkte herausgegriffen, die in unserem Zusammenhang interessant sind.

In der Zeitschrift „Situationistische Internationale“ ist mit dem Datum 17. Mai 1960 in der

4.Nr. ein Manifest gedruckt. Im zweiten Absatz darin ist bemerkenswerter Weise dieser Text zu lesen: „Die gesellschaftliche Entfremdung und Unterdrückung kann unmöglich gestaltet werden, in keiner ihrer Varianten – sie kann nur en bloc mit dieser Gesellschaft zurückgewiesen werden.“ Directeur dieser SI Nummer: Guy Debord, Paris

In seinem Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spektakels“ entlarvt Debord an Hand von 221 Thesen unsere Gesellschaft als die eines verfremdeten Spektakels. Es ist eine Anklage der modernen Industriegesellschaft, des Kapitalismus, der Form der Ware – also alles wird zur Ware und das ist ja mehr den je aktuell.

1967 erschienen, befeuerte das Gedankengut des Buches die 1968 Bewegung. Da aber mit den 1968er Unruhen nirgends ein Umsturz der herrschenden Gesellschaftsordnungen gelungen ist, hat sich das Spektakel allenthalben verstärkt – wir stecken gerade total darin fest!

Debord beschreibt eine Gesellschaft, die das Oberflächliche feiert, im Konsum Erfüllung finden möchte, die sich in den Medien selbst betrachtet und bewundert und alles für käuflich hält.

Diese Gesellschaft scheine hypnotisiert vom Anblick eines „wahren echten“ Lebens als Bild, als Klischee, während gleichzeitig in ihrem Alltag lebendige, menschliche Regungen abnehmen. Es findet eine Unterjochung und Verarmung des wirklichen Lebens statt. (Siehe z.B. Facebook, wo das mehr als nur wahr geworden ist.)

These 1:

Das Leben der Gesellschaften, in denen die modernen Produktionsbedingungen herrschen,

erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.


These 2:

Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einem gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann.

Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudowelt, Gegenstand der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Welt des Bildes wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt ist, als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.


Und noch deutlicher gesagt: These 14

……...Im Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will sich zu nichts anderem bringen als zu sich selbst.


These 15

Als unerläßlicher Schmuck der erzeugten Waren, als allgemeine Darstellung der Rationalität des Systems und als fortgeschrittener Wirtschaftsbereich, der unmittelbar eine wachsende Menge von Objekt-Bildern gestaltet, ist das Spektakel die hauptsächliche Produktion der heutigen Gesellschaft.


These 30

Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts….drückt sich so aus:

je mehr er zuschaut, umso weniger lebt er; je mehr er akzeptiert, sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger versteht er seine Existenz und seine eigene Begierde…….. Der Zuschauer fühlt sich daher nirgends zu Hause, denn das Spektakel ist überall.


These 40 

Absatz

..Diese unaufhörliche Entfaltung der wirtschaftlichen Macht in der Form der Ware, die die menschliche Arbeit, zur Ware-Arbeit, zur Lohnarbeit, umgebildet hat, führt kumulativ zu einem Überfluss, in dem die Grundfrage des Überlebens zweifelsohne gelöst wird, aber so, daß sie immer wiederkehren muß; sie wird jedesmal auf eine höhere Stufe gestellt. Das Wirtschaftswachstum befreit die Gesellschaften vom natürlichen Druck der ihren unmittelbaren Überlebenskampf erforderte – von ihrem Befreier sind sie nun aber nicht befreit. Die Unabhängigkeit der Ware hat sich auf die von ihr beherrschte Wirtschaft in ihrer Gänze ausgedehnt. Die Wirtschaft verwandelt die Welt, aber nur in eine Welt der Wirtschaft.


Debords Kritik am Spektakel ist also auch eindeutig als Kritik am Wirtschaftswachstum zu sehen.: „Im Spektakel…. ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst.“ Der Mensch akzeptiert ja inzwischen, selbst zur Ware zu werden! „Der verdinglichte Mensch trägt den Beweis seiner Intimität mit der Ware zur Schau.“ Und wie gesagt, wir stecken da ganz fest drin! 

These 219 

 …. Wer passiv sein täglich fremdes Schicksal erleidet, wird daher zu einem Wahnsinn getrieben, der illusorisch auf dieses Schicksal reagiert, indem er sich mit magischen Techniken behilft. Die Anerkennung und der Konsum der Waren stehen im Zentrum dieser Pseudoantwort auf eine Kommunikation ohne Antwort.

Diese Gesellschaft wollte Debord von Anfang an stürzen. Er schreibt selbst in seinem Vorwort in der späteren Ausgabe von 1992: „Man muss sich beim Lesen dieses Buches vergegenwärtigen, dass es bewußt mit der Absicht geschrieben worden war um der spektakulären Gesellschaft zu schaden.“

Debord war also gegen eine bequeme Passivgesellschaft und für die Selbstbestimmung des Menschen und seines Alltags. Gegen die alte Trennung zwischen aufgezwungener Arbeit und passiver Freizeit setzt er das Spiel und zwar ist es eine Aufforderung zum Spiel der menschlichen Anwesenheit…..Es wird eine Kunst des Dialoges sein!

Also miteinander reden!

Wie kann man sich das jetzt aber vorstellen? Eine Welt ohne Waren?

Debord selbst wollte auch in der Kunst kein Objekt als Ware mehr haben. Er wollte auch den Film in den Dienst der Abschaffung des Kapitalismus stellen. Es gibt eine Verfilmung der Gesellschaft des Spektakels, eine Filmcollage, die Debord 1973 gestaltete. Darin sind Szenen aus Hollywoodfilmen, SowjetKino, aus Softpornos, dokumentarischen Filmmaterial von den Maiunruhen in Frankreich 1968 mit einem gesprochenen Kommentar von Debord verbunden.

Das breite Echo und Debords starker Einfluß auf die Kunst ist ja vor allem bei der Performance zu sehen aber auch Punk, Streetart und viele andere künstlerische Strömungen beziehen sich auf Debord.

Es bleiben uns seine wichtigsten Strategien, die uns Debord als Kampfmittel hinterlassen hat: das Detournement – die Zweckentfremdung bereits existierender Elemente in einem neuen Zusammenhang: In der Umkehrung entwickelt sich eine Kreativität, die andere Ideen hervorbringt. Und die Technik des Derive - das Umherschweifen … das können wir heute noch einsetzen um neue Wege der Gesellschaft zu finden.

Um mit dem Manifest der SI zu enden:Wir führen jetzt das ein, was historisch der letzte Beruf sein wird. Die Rolle des Situationisten, des Berufsamateurs, des Anti-Spezialisten.“






Unser Diskurs über den Kapitalismus

Helmut Reinthaler hat ein Papier über die Entwicklung des Kapitalismus veröffentlicht:
Kapitalismus – Entstehung, Gegenwart und Ausblick

Seine Schlussfolgerung:
Die Menschheit muss sich konzentrieren auf den Übergang weg vom derzeitigen Wachstums-Kapitalismus, hin zu einer anderen Form (z.B. Kreislaufwirtschaft),
sie muss das Wachstum neu definieren:  Wiederherstellung/Erhaltung einer intakten Umwelt ist Wachstum!



Rupert Nagler hat eine stark vereinfachte Zusammenfassung von:
Schulmeister, Stephan. Der Weg zur Prosperität, Ecowin veröffentlicht:
Kurzfassung: Schulmeisters Weg zur Prosperität

Sein Eindruck über das Buch:
Schulmeister erklärt schlüssig die falschen Grundannahmen neoliberaler
Wirtschaftstheorie. Allerdings sind dabei manche Details eher an seine Kollegen aus dem neoliberalen Lager traditionell denkender Ökonomen gerichtet statt an ein breites Leserpublikum. In vielen Beispielen zeigt er nachvollziehbar den Teufelskreis der neoliberalen Austeritätspolitik. Er argumentiert nicht prinzipiell gegen den Kapitalismus, sondern beschreibt eindrucksvoll die negativen Auswirkungen des heute unreguliert agierenden Finanzkapitalismus. Seine wohldurchdachten Vorschläge am Ende des Buches kann ich gut nachvollziehen als konkrete Maßnahmen für die notwendige Kursänderung Richtung Prosperität. Vermögenssteuern fehlen mir dabei; er wertet sie als Symptombekämpfung, die ohne Abkehr von der neoliberalen Marktreligiosität nicht funktionieren würde. Ein empfehlenswertes Buch, das mitunter einiges Durchhaltevermögen vom Leser fordert, ihn aber durch viele überzeugende Erkenntnisse bereichert.

Die Unterschiede zwischen Realkapitalismus und Finanzkapitalismus sind in dem Buch wie folgt zusammen gefasst:
Unterschiede Kapitalismus



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